Fehlt uns individuell beim Betrachten eines Bildes eine geeignete Interpretationsvorlage, können wir also nichts ’Gegenständliches‘ erkennen, berechtigt und das noch lange nicht zu der Aussage, es handele sich bei dem Bild um ’Abstrakte Kunst‘.
Abstrakte Kunst:
Zeichner und Maler waren über Jahrhunderte und Jahrtausende damit beschäftigt, den Sehgewohnheiten, Modeerscheinungen und Stilen entsprechende zweidimensionale Abbilder der sichtbaren (dreidimensionalen) Wirklichkeit zu erschaffen oder durch die kreative Kombination ’gegenständlicher‘ Bildelemente Botschaften zu transportieren oder Geschichten zu erzählen. Je besser ihnen das gelang, desto höher waren sie als Künstler geschätzt und begehrt. Erst als es gegen Ende der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Erfindung und Entwicklung fixierbarer lichtempfindlicher Schichten gelang, längst bekannte technische (Zeichen-)Hilfsmittel wie Camera Obscura und optische Glaskörper (’Linsen‘) zu kombinieren (Camera Lucida) und dazu zu nutzen, langfristig haltbare Bilder relativ schnell und sehr bald auch vervielfältigbar herzustellen, konnten sich die anderen bilderzeugenden Künste aus der ’Zwangsjacke‘ der Gegenständlichkeit befreien. In diesem Zusammenhang sei nochmals daran erinnert, dass heute unterschieden wird zwischen der optische Sinneswahrnehmung durch das Auge und dem tatsächliche Sehvorgang im Gehirn.
Leonardo da Vinci (*1452- t1519) beschrieb die CO noch als ’Ebenbild des Auges‘. Erst John Locke (*1632 – t1704) führte rund 200 Jahre später das Funktionsprinzip der CO als Metapher für das menschliche Bewusstsein in die wissenschaftliche Philosophie der Aufklärung ein. Das sei hier nur deshalb in aller Kürze skizziert, um die enorme Tragweite dieser Erfindungen für die Bewusstseins- und Kulturentwicklung über die Aufklärung bis in unsere Gegenwart hinein anzudeuten.
Schon bei Platon (t 347 v.u.Z) lassen sich Äußerungen zu einer ’absoluten‘ Schönheit einer ’reinen‘ Kunst finden und bei akribischem Forschen lassen sich durch die Jahrhunderte der Kunstgeschichte immer mal wieder mehr oder weniger ’ungegenständliche‘ Werke aufspüren, die aber faktisch durchgängig meist deshalb unwirksam (und unbedeutend weil unverstanden) blieben, weil sie im Extremfall für die erschaffenden Künstler buchstäblich lebensgefährlich waren aber zumindest in deren völliger Isolation durch Verbannung oder im ’Irrenhaus‘ endeten.
Erst ca. 60 Jahre nach der Erfindung und technischen Entwicklung der Fotografie tauchen erste (zu Beginn theoretische) Ansätze zu ungegenständlichen Bildern auf. Der russischstämmige W. Kandinsky (der ursprünglich aus den Dekoreskapaden des ’Jugendstils‘ kommt!) postulierte als einer der ersten namhaften Maler ein ’Recht‘ der Malerei, innere Prozesse des Künstlers auf die Leinwand zu bringen. … und plötzlich tut sich eine ungeahnte Nähe zur ‘Wahrheitssuche‘ hinter der gegenständlichen Oberfläche der Dinge auf … (siehe meine Erklärung zum Ursprung des Begriffs ’Darpana‘).
Ohne diesen Hintergrund wären Bewegungen in der Kunst wie ’Action Painting‘, ’Informel‘ oder auch ’Konkrete Kunst‘ und jüngere Entwicklungen gar nicht denkbar und möglich geworden.
Ohne den m.E. weitestgehend akademischen Streit darum, werde ich in Zukunft den Begriff der Abstraktion und des Ungegenstädndlichen in den bildschaffenden Künsten gleichbedeutend verwenden. Dabei soll aber nicht aus den Augen und vor allem aus dem Bewusstsein verloren werden, dass jedes Bild an sich ’gegenständlich‘ weil selbst ein Gegenstand ist.
Die klassische Fotografie ist ein technisches Bildgebungsverfahren, das prinzipiell physikalischen Gesetzmäßigkeiten folgt und unter identischen Bedingungen wiederholbare Ergebnisse produziert. Insoweit könnte man Fotografie als ‘wissenschaftsbasierte Dokumentationstechnik‘ bezeichnen.
Allerdings sind die Einflussfaktoren im Prozess der Bilderzeugung so vielfältig und die Bedingungen, unter denen die Technik(en) angewendet werden können so variabel und subjektiv so variantenreich kombinierbar und auch die gegenständliche Abbildungsvorlagen selbst so zahlreich und zumeist im Zeitkontinuum ständigen Veränderungen unterworfen, dass ein endgültiges Ausschöpfen aller möglicher Faktorenkombinationen weit außerhalb des menschlichen Vorstellungsvermögens liegt.
Gleichzeitig allerdings muss immer wieder ins Bewusstsein gerufen werden, dass jedes fotografisch erzeugte zweidimensionale Abbild der uns umgebenden dreidimensionalen ’Wirklichkeit‘ (wenn man die Zeit als eigenständige ’Dimension‘ betrachtet ist sie sogar ’vierdimensional‘) bis es uns als Bild vorliegt, bereits einen mehrstufigen Abstraktionsprozess durchlaufen hat.
Der enormen Plastizität, seiner Verarbeitungs- und Ausgabegeschwindigkeit und der Lernfähigkeit unseres Gehirns ist es zu verdanken, dass wir uns trotz aller Informationsreduktionen, die mit den ’Abstraktionsschritten‘ in der (fotografischen) Bilderzeugung einhergehen, eine weitestgehend alltagstaugliche Vorstellung unserer gegenständlichen Welt machen können.
Häufig ist in einschlägigen Printmedien ebenso wie im Internet beispielsweise im Zusammenhang mit Makro- und Mikrofotografien die Rede von ’Abstrakter Kunst‘. Das lediglich deshalb, weil sich dem ’durchschnittlichen‘ Betrachter nicht auf den ersten Blick erschließt, was da ‘ab-gebildet‘ ist. Wenn ein Fotograf entweder einen uns unbekannten Gegenstand unter uns ungewohnten Lichtverhältnissen oder einem ungewohnten Blickwinkel ’dokumentiert‘ oder Aufnahmetechniken einsetzt, mit denen wir Betrachter entweder nicht vertraut sind oder die über unsere alltäglichen Sehgewohnheiten hinausgehen (beispielsweise Langzeitbelichtungen, Röntgenstrahlen, Infrarotfotografie). Immerhin sind die allermeisten solcher Bilder, technisch gesehen, ganz konventionell ’abfotografiert‘. Nicht ich als Betrachter oder -verallgemeinert- der Betrachter kann subjektiv entscheiden, was als ’abstrakt‘ zu gelten hat, sondern eher die Absicht des Bild-Schaffenden und der Entstehungsprozess des Bildes müssen die entscheidenden Kriterien sein, auch wenn sich Beides dem Betrachter gelegentlich nicht so einfach erschließt.
Innerhalb der ’abstrakten‘ Fotografie wäre noch die Unterscheidung zu treffen, ob zur Bilderzeugung von einem realen Gegenstand ausgegangen wurde oder ein geometrisches oder mathematisches Modell (wie etwa nach B. Mandelbrot) als ’Vorlage‘ diente oder andere Methoden zur Bilderzeugung führten. Darauf will ich in einem Beitrag zur ’Konkreten Kunst‘ bzw. ’Generativen Fotografie‘ näher eingehen.
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