Eine Frage der Ästhetik
In einem früheren Beitrag habe ich mich sehr allgemein mit Fragen der Ästhetik im Zusammenhang mit jeglicher Bildgestaltung und speziell im Fotodesign Beschäftigt. (siehe unter Blog > ’allgemein‘ vom 24. August 2024).
Der Begriff „Goldener Schnitt“ ist nach meiner Erfahrung heutzutage sogar unter Künstlern wie Kunstinteressierten erstaunlich wenig bekannt und
– zugegebener Maßen – in unserem alltäglichen Sprachgebrauch ja auch ein recht sperriges Ungetüm. Leichter zugänglich wäre uns heute eine Formulierung wie ‘goldene –‘ oder auch ‘ideale Proportion‘. Denn genau darum geht es! Ich werde im weiteren Verlauf meiner Ausführungen bei dem tradierten Begriff „GS“ bleiben, weil es ein als ’Terminus technicus‘ in der Fachwelt geläufiger Begriff ist.
Uraltes Wissen
Als wissenschaftlich gesichert gilt heute, dass die Erkenntnis, die wir als GS bezeichnen, seit weit über dreitausend Jahren bekannt und u.a. schon in altägyptischen Bau- und Kunstwerken (als ’Geheimwissen‘?) nachweisbar ist. Die erste klar mathematisch ausformulierte Definition wird, zumindest aus eurozentrierter Weltsicht, üblicherweise dem altgriechischen Philosophen und Mathematiker Euklid zugeschrieben, der ca. 300 Jahre v.u.Z. lebte.
Nicht nur in der bildschaffenden Kunst und der Architektur, auch in der Musik, dem Instrumentenbau, ja sogar in dramaturgischen Strukturen von Literatur und im Industriedesign wird der GS angewendet und auch in orga-nischen Strukturen, vom Blütenstand bis hin zum menschlichen Körper ist der GS als formbestimmendes Element von Proportionen mathematisch nach-weisbar.
Schön und gut, mögen Sie sich jetzt fragen, aber WAS besagt denn nun dieser GS und warum ist er so bedeutsam für unser Kunstverständnis?
Proportionen, oder ‚gut‘ gebaut
Der Goldene Schnitt beschreibt eine Proportionenrelation und kann verbal beschrieben werden: „Wird eine Größe so geteilt, dass sich der kleinere Wert zum größeren proportional genauso verhält, wie der größere Wert zur Gesamtgröße des geteilten Werts, so sind die Bedingungen für den GS erfüllt.“ Der Bedingungssatz ist deshalb so abstrakt formuliert, weil der GS auf ganz unterschiedliche Maßskalen anwendbar ist, nämlich auf Streckenver-hältnisse ebenso wie auf Winkelgrade (für Verhältnisse im dreidimensionalen Raum und der Fläche), auf Zeitskalen ebenso wie auf Schwingungsmaße (für Verhältnisse in der Musik von Tonlagen und Rhythmen).
In mathematischer Kurzform geschrieben lautet die Bedingung:

wobei a für den größeren Wert und b für den kleineren Wert und a+b für die Gesamtgröße steht.
Als ermittelter Proportionswert ergibt sich nach Lösen der Gleichung ein Zahlenwert von 1,618. Für Nicht-Mathematiker in alltagstaugliche Sprache übersetzt bedeutet das, dass beispielsweise ein Rechteck dann die Bedin-gungen des GS erfüllt, wenn die lange Kante die 1,618-fache Länge der kurzen Kante misst. Die Besonderheit der Formel führt dazu, dass die Bedin-gungen für den GS auch erfüllt sind, wenn ich sage dass die kurze Kante eines Rechtecks die lange Kante multipliziert mit 0,618 misst. Bemerkenswert ist hier auch, dass ein nach den Regeln des GS proportioniertes Rechteck sich immer in ein Quadrat und ein Rechteck zerlegen lässt, das wiederum die Bedingungen des GS erfüllt.
Mathematik und Kunst
Bereits vor knapp tausend Jahren hat ein Rechenmeister namens Leonardo Fibonacci in Pisa zur Lösung einer Wahrscheinlichkeitsrechnung auf seine Kenntnisse der arabischen Rechenkünste zurückgegriffen und die nach ihm benannte Zahlenfolge in die europäische Mathematik eingeführt. Diese Zahlenfolge ist nach folgender Regel aufgebaut:
Die natürliche Zahl 1 wird vorgegeben, dann ist die nächstfolgende Zahl immer aus der Summe der beiden vorangegangenen Zahlen gebildet. Zu Fibonaccis Lebzeiten kannte die europäische Mathematik noch keine Null als eigenständige Rechengröße. Deshalb beginnt die Zahlenfolge originär mit 2 Einsen und ist dann wie folgt zu schreiben: 1; 1; 2; 3; 5; 8; 13; 21; 34; 55; usw.
Warum dieser Exkurs?
Interessant ist, dass mit zunehmenden Zahlenwerten die Fibonacci-Reihe immer enger um den Wert oszilliert und, dass die aus computergenerierten Bildern bekannten Mandelbrotmengen in direktem Zusammenhang stehen mit den Bedingungen des GS.

Wendet man die Bedingungen des GS auf Winkelgrade an, stellt sich schnell heraus, dass das Pentagon und damit auch das Pentagram geometrisch die perfekte Lösung des GS liefert.

Kristallstrukturen, die vielfältig in der Natur vorkommen erfüllen häufig die Bedingungen des GS ebenso wie Wachstumsstrukturen in der Biologie (beispielsweise Fruchtstände der Sonnenblume, Blattstände an Pflanzen-stengeln, Blattform des Efeus und von Farngewächsen, Schuppenstrukturen von Tannenzapfen und Fischhäuten, die Wuchsform des Romanesco-Brokkoli, Gitterstrukturen in Knochengeweben) bis hin zum vitruvianischen Menschen nach Leonardo da Vinci. Viele Gewebestrukturen auch in unserem menschlichen Körper erfüllen die Bedingungen des GS wenigstens näherungsweise.

Wissenschaft intuitiv?
Erklärt sich bei ganzheitlicher Betrachtung möglicherweise aus dieser zuletzt erwähnten Tatsache, dass wir Proportionen, die die Bedingungen des GS erfüllen als besonders harmonisch empfinden und sich daraus wieder die Neigung vieler Künstler unterschiedlichster Gattungen, ihre Arbeiten (auch ohne die detaillierte Kenntnis mathematischer Zusammenhänge) ‘intuitiv‘ nach Maßgaben des GS gestalten? Bei vielen großen Malerinnen und Malern bis hinein in die Gegenwartskunst lassen sich an bedeutenden Wer-ken allemal fundierte Kenntnisse über Gestaltungsgrundsätze und Proporti-onen nach dem GS zweifelsfrei nachweisen.
Für die alltägliche Praxis jedes kreativ tätigen Kulturschaffenden, egal ob ’freier‘ Künstler, Werbegrafiker oder Produktdesigner in der Konsumgüter-industrie, kommt es nicht so sehr auf die mathematisch-analytische Durch-dringung und Erkenntnis des GS an als vielmehr auf die intuitive Annäherung an ‘ansprechende‘ Proportionen.
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